Texte


Einführung in die Ausstellung "Farb-Utopien"

 

Bilder von K.N.Holder

in der Galerie Forum Türk in Nürtingen

 

am 18.10.2020

 

Verehrte Gäste, liebe Freunde und Mitglieder des Forum Türk, verehrte Musiker, liebe Künstlerinnen, erneut “gilt`s der Kunst“, wir lassen uns vom Virus nicht unterkriegen.

 

Dabei helfen uns zwei Tübinger Künstlerinnen, deren "Farb-Utopien"

- so der Titel dieser Ausstellung – sich in unserer Galerie zu einem wahren "Farbrausch" steigern.

 

Wir hoffen, dass sich die Farbschönheit und die Lebendigkeit ihrer Bilder auf Sie, verehrte Gäste, stimulierend auswirken und Ihre Stimmung in der düsteren "Corona"- Herbstdepression ein wenig anheben.

 

I.  Beide Künstlerinnen gelten – nach allgemeinem Verständnis – als `abstrakte` Malerinnen, aber ihre Wege in die Abstraktion sind unterschiedlich.

 

Ich beginne mit Kristina Negele-Holder, Im Folgenden kurz `Holder` genannt.

 

Nach einem Kunst-und-Design-Studium an der Freien Hochschule Metzingen 1998 hat sie von 1999 bis 2004 an der Freien Kunstakademie Nürtingen studiert.

Nach einem Kunst-und-Design-Studium an der Freien Hochschule Metzingen 1998 hat sie von 1999 bis 2004 an der Freien Kunstakademie Nürtingen studiert.

Schon früh beginnt sie in Experimentalbildern die Eigenwirkung von Farben und Bindemitteln zu erforschen. So gestaltet sie z.B. 2006 eine ganze Wand in der `Villa Merkel` mit einer Großkomposition aus quer-rechteckigen Farb- und Bindemittelfeldern in variierender Transparenz.

Daneben malt sie aber auch gegenständlich. Noch in den Jahren 2015-17 entstehen `Textil`- Bilder mit präzis beobachtetem Faltenwurf und übermalte Fotografien mit naturnahen `Wolken`- Bildungen. Sogar in diesem Jahr 2020 malt sie noch - fast fotorealistisch – aufgeschnittene `Zitronen` und andere `Früchte`- Bilder. Auch das `Landschafts`- Motiv taucht wieder auf.

 

Man könnte - mit Goethes `Faust` frei zitiert – sagen:

„ Zwei Seelen wohnen - ach ! – in meiner Brust,

Die eine will sich von der andern trennen;

Die eine hält, in derber Liebeslust,

Sich an die Welt, mit klammernden Organen;

Die andre hebt gewaltsam sich vom Dunst

Zu den Gefilden hoher Ahnen. „

 

Die `hohen Ahnen` sind in diesem Fall die Vorläufer und Verkünder einer bildenden Kunst, die nicht mehr nur vom gegenständlichen Vor-Bild abstrahiert, zu `deutsch: ` abzieht`, sondern sich völlig vom Gegenständlichen lossagt, kurz: die `gegenstandslose (Bild-) Kunst`. Ihre Formen und Gestaltungen entspringen ausschließlich der menschlichen Erfindungskraft.

 

Ich denke hier an Immanuel Kant, der 1970 in seiner “Kritik der Urteilskraft“

im vor-bildlosen Ornament, in der reinen Schmuckform, die höchste Freiheit in der Kunst erkennt. Und natürlich denke ich an Künstler und Kunsttheoretiker wie Adolf Hoelzel und Wassily Kandinsky, die – eingangs des 20.Jh.s – in den Farben und den von ihnen eingenommenen Formen die eigentlichen und einzigen Träger der `wahren` Bildkunst sehen. Diese Kunst habe sich von allen außerästhetischen Befrachtungen- wie Historie, Politik, Landschaft, Tiere, Pflanzen und menschliche Gestalt – emanzipiert. Sie ist nicht mehr Imitator der Außen-Wirklichkeit.

 

Noch andere tiefsinnige Vordenker dieses neuen Kunstverständnisses wären zu nennen, wie der frz. Schriftsteller Emile Zola oder der litauische Maler und Komponist Ciurlionis. Letzterer hat sogar die Farb- ` Töne` mit den Tönen und Halbtönen der musikalischen Tonleiter gleichgesetzt und für die Farben eine ähnliche Ordnung wie die Tongeschlechter und Tonarten der Musik angestrebt.

 

In großformatigen Bildern versuchte er, musikalische Kompositionen in abstrakte malerische Strukturen zu übertragen. Die Musik ist ja per se eine abstrakte Kunst: selbst für eine einfache Volkslied-Melodie gibt es kein Natur-Vorbild.

 

II. All diesen Bemühungen um eine gegenstandslose, reine, nur dem menschlichen Geist entspringende Malerei steht allerdings das eherne Diktum des berühmten englischen Philosophen John Locke gegenüber, der schon Mitte des 17.Jh.s feststellte: „ Es ist nichts im Verstande, was nicht vorher in der sinnlichen Anschauung war “. Zwar hat der deutsche Philosoph Leibnitz geschickt gekontert, indem er hinzufügte: “ Ja, richtig, aber ausgenommen der Verstand selbst!“ Trotzdem haben er und später Kant sich schwer getan, diese Lock`sche Behauptung zu widerlegen.

Bis heute wird darüber gestritten, ob es eine wirklich `gegenstandslose `und

`vorbildlose` Malerei gibt. Ich meine, die Tonkunst, die Musik, ist tatsächlich

`vorbildlos `, habe aber meine Zweifel, ob das auf die `Augen-Kunst`, auf die bildende Kunst, übertragbar ist.

 

III. Wie auch immer, Kristina Holder hat sich zumindest teilweise der Ansichtangeschlossen, dass es eine `gegenstandslose`, `vorbildlose` Malerei gibt.

Das ist eine Folge ihrer theoretischen Erörterungen, die ständig ihre Malpraxis begleiten. So stellt sie sich unablässig Fragen - viele Fragen - zu den unterschiedlichen Maltechniken und deren malerische Wirkungen.

 

Ich greife aus ihrem Katalog “Retrospektive 2017“ einige Beispiele heraus:

- „Was sind Farbgefühle?“

- „ Was meint Farbwerte?“

- „ Ist Farbe ein Ereignis oder ein Erlebnis?“

- „ Haben Bindemittel einen wesenhaften Einfluss (auf das Bild)?“

- „ Beeinflusst der Bildträger die optische Wirkung der Oberfläche?“

- „ Zeigt sich Leinölfarbe am schönsten auf magerem Grund?“

- „ Ist es möglich, Foto und Malerei sinnvoll zu verbinden?“

 

Allein bei dieser kleinen Auswahl von Fragen zur Maltechnik nimmt es nicht wunder, dass Holder auch zur Grundfrage der Bildkunst vorstößt: `Gibt es eine tatsächlich vom Vor-Bild des Gegenständlichen emanzipierte Malerei?`

 

Weder diese Grundfrage noch die vielen technischen Fragen beantwortet sie schriftlich-theoretisch. Nein, sie zieht nur „ phantasievolle Impulse“ aus diesen Fragestellungen und versucht, sie ausschließlich durch ihre praktische malerische Arbeit zu beantworten. Sie sagt dazu: „ Das Werk entspringt dann einem spontanen schöpferischen Flow (dt.: `Fließen`)“, und fügt das Diktum hinzu: „ Das Kunstwerk weiß mehr als der Künstler“.

 

Das bedeutet, dass wir als Betrachter selbst entscheiden müssen, ob es sich

bei dem einen oder anderen Bild von Holder um ein `gegenständliches` oder um ein `abstraktes`, d.h. vom Vor-Bild des Gegenstandes `abgezogenes` oder gar um ein tatsächlich `vor-bildloses` Gemälde, d.h. um eine reine Kopfgeburt handelt.

 

IV. Alle drei Stilformen sind hier bei Holder vertreten. Da sind zunächst die`gegenständlichen Bilder`.

Zu ihnen zähle ich – von Ihnen, m.D.u.H., leicht nachvollziehbar – den “ Faltenwurf“ (2015,Öl/Lw 100x80cm) und die “ Pfirsiche“ (2020,Öl/Lw 70x60cm) – beide hier an der Stellwand - , und natürlich die beiden Bilder mit “Aufgeschnittenen Zitronen“ (beide 2020!) – hinter Ihnen an der Pantry-Wand oder auch der weibliche Torso mit dem eleganten “Roten Kleid“ (im Nebenraum).

Auffallend an diesen Bildern ist, dass sie eine dominante Farbe haben.

`Rot` oder heller `Ocker`, und – bis auf das eine `Zitronen`- Bild mit dem tiefblauen Hintergrund – nahezu monochrom gemalt sind. Die minutiös genaue Beobachtung und Darstellung des `Faltenwurfs` oder der Fruchtschale und des Fruchtfleisches lässt keinen Raum für den häufig geäußerten Verdacht, die abstrakten Maler malten nur deshalb `abstrakt`, weil sie zur realistischen Erfassung des Gegenständlichen – oder auch Figürlichen - unfähig seien.

 

V.  Die Unterscheidung der `abstrakten` von den `gegenstandslosen` Bildern ist bei Holder deutlich schwieriger. Die Bilder mit kosmischen Titeln – „ Supernova“ oder „ Ptolemäus-Nebel“ ( im Sternbild "Haar der Berenike") – deuten auf ein - kosmisches – Naturvorbild und sind deshalb – trotz ihrer irregulären freien Gestaltung als "abstrakte", von einem gegenständlichen Vorbild abstrahierte Kompositionen einzuordnen.

Auch formal so interessant komponierte Bilder wie "Der Taucher" und "Rotes Magnetfeld" ( an der Eingangswand bzw. an der vorderen Stellwand ) würde ich als "abstrakte Bilder" bezeichnen.

 

VI. Den höchsten Freiheitsgrad ihrer Malerei hat Holder aber in ihren `gegenstandslosen` und damit `vor-bildlosen` Bildern erreicht. Zu diesen Bildern zähle ich z.B. dieses großformatige hier (an der Podiumswand ) mit dem Titel “ Goldgeburt“ (2019, Mischtechnik 150x150cm). Hier hat sie völlig frei mit den Pigmenten experimentiert und auf einen schwarz-blau-braunen Fond diese weich- verschwimmenden Goldocker-Blasen aufgetupft. Der scheinbar gegenständliche Titel ist erst a posteriori, im nachhinein, entstanden, wohl weil die Formen tatsächlich an Föten im Mutterleib erinnern. Ein Vor-Bild für die Malerin sind die Föten nie gewesen.

Auch das große Bild “Verworrene Gedanken“ hat wohl seinen Titel erst nach dem Malakt bekommen (an der hinteren Seitenwand). Ja, man kann hier eine Allegorie auf jenen Geisteszustand erkennen, den eigentlich jeder kennt:

man sucht z.B. angestrengt nach einer Problemlösung, doch die Gedanken schwirren nebulös und formlos durcheinander. Nur langsam kristallisieren sich erste Strukturen heraus, und einige Gedanken nehmen Gestalt an.

 

Den Höhepunkt ihrer Malerei in dieser Ausstellung stellen aber zwei großformatige Bilder in ausschließlich rot- rosetonigen Farben vor tiefdunklem Grund dar. Das eine heißt “Überirdisch“ und ist 2019 entstanden (an der Stirnwand). In kühner Formgebung stechen zwei rose-farbene Figurationen in den schwarzen Raum hinein und bilden dabei ein Diagonalkreuz. Dieses Bild ist nicht nur `über- irdisch`, es ist auch `über- kosmisch`. Mir ist kein Gebilde aus dem Universum bekannt, bei dem eine Sternen-Explosion diese Gestalt angenommen hätte.

 

Das andere Großbild mit dem Titel “Drachenrot“ (2018, Mischtechnik 150x150cm) überwältigt den Betrachter mit einem wahren Rot-Rausch. Diese Wirkung erzielt Holder durch den Einsatz auch von leuchtintensiver `Signalfarbe`. Ist das nun eine Drachen-Höhle oder die Hölle selbst? Der Titel `Drachen-Rot` spielt ja auch mit dem Begriff `Drachen-Tod`, und mit wenig Phantasie kann man ja sogar eine Speerspitze und ein Schwert entdecken, die beide diagonal in die Rot-Formationen hineinstechen. Im Sinne der abendländischen Ikonografie ist das nicht, denn Drache, Schlange und Teufel - Sinnbilder des Bösen - wurden meist in einer grün-blau-schwarzen Mischung dargestellt. Wie auch immer, dieses Bild nimmt den Betrachter mit seiner phantastischen Aggressivität gefangen!

 

VII.   M.D.u.H., wir haben es hier auch mit abstrakter und gegenstandsloser Kunst zu tun. Da ist vieles rational nicht erklärbar. Genau das aber gehört zum Wesen eines wahren Kunstwerkes. Die Kunst ist nicht rational und kann es auch gar nicht sein, denn sie führt uns in irrational und surreale Wirklichkeiten, die dem rationalen Verständnis verschlossen sind.

 

Ich folge dem kunstsinnigen Philosophen Martin Heidegger, wenn er in seiner Schrift “Ursprung des Kunstwerkes“ sinngemäß sagt: das wahre Kunstwerk offenbare sich nie völlig, es verharre in einem Schwebezustand zwischen dem `Entbergen` und `Verbergen`. Denn das, was das Kunstwerk anrührt, kann gar nicht entborgen werden.

 

Beides können Sie, m.D.u.H. , an den hier versammelten Exponaten erleben.

 

Für Ihre Entdeckungsreise in die Bilderwelten von Kristina N.Holder wünsche ich Ihnen Abenteuerlust und einen aufmerksamen Blick!